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Ordnung der Anerkennungskommission der Evangelischen Kirche
Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Vom 18. März 2022

(KABl. Nr. 110 S. 134)

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Präambel

Im Bewusstsein, dass Menschen im Raum der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie durch Beschäftigte und andere Personen sexualisierte Gewalt erlitten haben, übernimmt die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Verantwortung für das Unrecht. Diese Verantwortung wird auch durch die Arbeit der Anerkennungskommission ausgedrückt. Sie soll frei von Weisungen, betroffenenorientiert und durch die Zuerkennung unterstützender Leistungen an Betroffene von sexualisierter Gewalt das erlittene Unrecht anerkennen. Die Hilfen sollen dazu beitragen, Traumatisierungen und ihre Folgen zu mildern. Hierbei orientiert sich die folgende Ordnung an den durch die Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland in einer Musterordnung beschlossenen Standards.
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§ 1
Rechtsgrundlage der Anerkennungskommission

Die Kommission zur individuellen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt (im Folgenden: Anerkennungskommission) ist eine unabhängig entscheidende Einrichtung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).
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§ 2
Grundsätze der Arbeit der Anerkennungskommission

Die Anerkennungskommission entscheidet über Anträge auf Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung der Betroffenen. Sie ist in ihrer Arbeit unabhängig und nicht an Weisungen eines kirchenleitenden Organs oder einer anderen kirchlichen Stelle gebunden. Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts sind Teil eines individuellen Anerkennungs- und Unterstützungssystems, mit dem die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ihrer institutionellen Verantwortung für die sexualisierte Gewalt gerecht werden möchte, die Menschen in Einrichtungen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, ihren Kirchenkreisen und Kirchengemeinden, sonstigen kirchlichen Körperschaften, Einrichtungen oder Werken in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz erlitten haben. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz nimmt durch die Arbeit der Anerkennungskommission das Leid der Betroffenen wahr, schenkt ihren Schilderungen Gehör und Glauben und setzt sich so mit ihrem individuellen Erleben und auch ihrer Lebenssituation und ihrem heutigen Unterstützungsbedarf auseinander. Die Ordnung findet ganz oder teilweise auf Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. (DWBO) Anwendung, wenn die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und das DWBO dies vereinbaren.
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§ 3
Voraussetzungen einer Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts

( 1 ) Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung in der heutigen Lebenssituation können Personen beantragen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, für die ein institutionelles Versagen einer kirchlichen Körperschaft der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (mit-) ursächlich war.
( 2 ) Ein institutionelles Versagen liegt in der Regel vor, wenn
  1. die sexualisierte Gewalt von Beschäftigten einer kirchlichen Institution in deren räumlichen Verantwortungsbereich verübt wurde, oder
  2. die sexualisierte Gewalt von Beschäftigten einer kirchlichen Institution außerhalb von deren räumlichen Verantwortungsbereich verübt wurde und sie im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses verübt wurde, welches im Rahmen der beruflichen Tätigkeit des/der Beschäftigten begründet wurde, oder
  3. die sexualisierte Gewalt von Ehrenamtlichen der kirchlichen Institution oder von einer der kirchlichen Institution anvertrauten Person verübt wurde und die kirchliche Institution
    • der Tat Vorschub geleistet oder sie begünstigt hat oder
    • keine angemessenen Maßnahmen getroffen hat, um die sexualisierte Gewalt zu verhindern oder ihre Auswirkungen zu verringern.
( 3 ) Eine Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung in der heutigen Lebenssituation setzt voraus, dass die Darlegung des Sachverhalts gemäß Absatz 1 und 2 plausibel ist.
( 4 ) In den in Absatz 2 genannten Fällen werden das institutionelle Versagen und seine Mitursächlichkeit für die sexualisierte Gewalt angenommen und müssen nicht durch die antragstellende Person bewiesen oder belegt werden. Eine Entkräftung obliegt stets der betreffenden Körperschaft.
( 5 ) Wenn eine Sachverhaltsdarstellung und Empfehlung der Clearingstelle im Rahmen des „Ergänzenden Hilfesystem des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ vorliegt, kann diese als grundsätzliche Plausibilisierung herangezogen werden.
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§ 4
Verfahren der Antragstellung

Anträge auf Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung in der heutigen Lebenssituation werden von der Anerkennungskommission der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz entgegengenommen. Betroffene können sich bei einer Antragstellung durch Dritte vertreten lassen. Die Anerkennungskommission begleitet und unterstützt die antragstellenden Personen auf Wunsch bei der Antragstellung.
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§ 5
Grundsätze einer Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung in der heutigen Lebenssituation

( 1 ) Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung in der heutigen Lebenssituation sind freiwillige Leistungen und auf eine Wirkung in der Zukunft ausgerichtet. Sie erfolgen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
( 2 ) Die Höhe der Leistung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach den Folgewirkungen und dem durch die erlittene sexuelle Gewalt in der heutigen Lebenssituation bestehenden Unterstützungsbedarf. Die Höhe der Leistung beträgt grundsätzlich 15.000 Euro und kann in besonderen Fällen bis 50.000 Euro betragen. Neben der Leistung in Form der Geldzahlung können sonstige Unterstützungsleistungen erfolgen.
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§ 6
Verhältnis zu anderen Leistungen

Leistungen, die die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz auf Grund von Vorgaben der Geschäftsstelle des Fonds Sexueller Missbrauch aus dem „Ergänzenden Hilfesystem des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ gewährt hat, werden auf eine Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts grundsätzlich nicht angerechnet. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz kann auf Grund eigener Regelungen neben den Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen weitere Hilfen gewähren.
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§ 7
Zusammensetzung der Anerkennungskommission

( 1 ) Die Anerkennungskommission besteht aus mindestens drei Mitgliedern, möglichst verschiedenen Geschlechts, die unterschiedliche berufliche und persönliche Erfahrungen in die Kommissionsarbeit einbringen sollen. Sie sollen Grundkenntnisse und Erfahrungen im Themenbereich sexualisierter Gewalt in Institutionen und im Umgang mit traumatisierten Menschen haben. Ein Mitglied, das nicht in einer kirchlichen Stelle beschäftigt ist, soll über eine traumatherapeutische Qualifikation, die auf einer wissenschaftlichen Hochschulausbildung (Diplom/Master) beruht, verfügen. Ist dieses nicht möglich, kann eine entsprechend qualifizierte Person fallbezogen und beratend hinzugezogen werden. Alle müssen die Bereitschaft und Eignung mitbringen, den Auftrag der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (§ 2 Satz 3) zur Anerkennung individuellen Leids Betroffener zu erfüllen.
( 2 ) Die Mitglieder der Anerkennungskommission wählen eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden sowie eine stellvertretende Vorsitzende oder einen stellvertretenden Vorsitzenden.
( 3 ) Die Anerkennungskommission entscheidet durch Beschluss. Es ist hierfür die Mehrheit der Stimmen der Anwesenden erforderlich.
( 4 ) Die Anerkennungskommission ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend ist.
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§ 8
Berufung der Mitglieder der Anerkennungskommission

Die Mitglieder der Anerkennungskommission werden von der Kirchenleitung berufen. Sie sind unabhängig und in ihren Entscheidungen als Kommissionsmitglied nicht an Weisungen eines kirchenleitenden Organs oder einer anderen kirchlichen Stelle gebunden. Ihre Amtszeit beträgt drei Jahre. Wiederberufungen sind möglich. Sie sind ehrenamtlich tätig und erhalten für ihre Tätigkeit eine Erstattung ihrer Auslagen und eine Aufwandsentschädigung.
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§ 9
Verfahren der Anerkennungskommission

( 1 ) Die Anerkennungskommission entscheidet nach Mehrheit ihrer anwesenden Mitglieder auf der Basis des Antrags und ggf. weiterer Angaben der antragstellenden Person. Sie soll der antragstellenden Person Gelegenheit geben, wenn gewünscht, in einem nichtöffentlichen Gespräch ihr Anliegen vorzutragen. Satz 1 gilt auch, wenn die Anerkennungskommission kein Gespräch durchführen kann, weil die betroffene Person dies nicht wünscht. Zur Prüfung der Voraussetzungen nach § 3 erhalten die Mitglieder der Kommission oder in ihrem Auftrag handelnde Personen Einsicht in alle relevanten Akten und Dokumente.
( 2 ) Eine Vertreterin oder ein Vertreter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz kann auf Einladung der Anerkennungskommission an den Beratungen ohne Stimmrecht teilnehmen. Ist die antragstellende Person anwesend, ist die Teilnahme der Vertreterin oder des Vertreters nach Satz 1 nur mit ihrer Einwilligung zu gestatten. Die Versagung der Einwilligung durch die antragstellende Person hat keine Auswirkungen auf das Verfahren.
( 3 ) Auf Antrag der betroffenen Person kann eine Entscheidung der Anerkennungskommission zu einem späteren Zeitpunkt dahin abgeändert werden, dass weitere Leistungen in Form einer Geldzahlung oder weitere sonstige Unterstützungsleistungen erfolgen, soweit sich der nach den Folgewirkungen und dem durch die erlittene sexuelle Gewalt in der heutigen Lebenssituation bestehende Unterstützungsbedarf nach der Erstentscheidung verändert hat. Die Gesamtzahlung soll 50.000 Euro nicht übersteigen. Dies gilt auch für Anträge, über die vor Inkrafttreten dieser Ordnung entschieden wurde.
( 4 ) Die Verpflichtung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Fälle sexualisierter Gewalt dienst- oder arbeitsrechtlich zu verfolgen und die staatlichen Strafverfolgungsbehörden einzuschalten, bleibt durch die Arbeit der Anerkennungskommission unberührt. Die Anerkennungskommission soll mit Einwilligung der betroffenen Person Taten an die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz melden. Der Ausgang anderer Verfahren bestimmt nicht über die Voraussetzungen einer Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts und zur Unterstützung in der heutigen Lebenssituation nach § 3.
( 5 ) Die Verfahren der Anerkennungskommission unterliegen dem Gebot der Beschleunigung. Anträge sind in einem vertretbaren Zeitrahmen zu bearbeiten und zu entscheiden.
( 6 ) Die Anerkennungskommission kann weitere Regelungen zum Verfahren in einer eigenen Geschäftsordnung beschließen.
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§ 10
Verfahrenslotsin oder Verfahrenslotse

( 1 ) Die Kirchenleitung beruft in Abstimmung mit der Anerkennungskommission eine oder mehrere Personen, die Betroffene als Verfahrenslotsin oder Verfahrenslotse in dem Verfahren nach dieser Ordnung begleiten und beraten.
( 2 ) Die Geschäftsstelle der Anerkennungskommission macht die antragstellende Person auf diese Möglichkeiten aufmerksam.
( 3 ) Die Verfahrenslotsin oder der Verfahrenslotse erhält eine pauschale Aufwandsentschädigung für ihre/seine Arbeit.
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§ 11
Verpflichtung zur Verschwiegenheit

Die Mitglieder der Anerkennungskommission und die anderen an den Beratungen teilnehmenden Personen sind zur Verschwiegenheit über alle Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen in Ausübung ihrer Tätigkeit bekanntgeworden sind. Dazu sind sie bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit auf das Datengeheimnis schriftlich zu verpflichten, soweit sie nicht aufgrund anderer Bestimmungen bereits zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden. Das Datengeheimnis besteht auch nach Beendigung ihrer Tätigkeit fort.
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§ 12
Austausch, Dokumentation und Transparenz

( 1 ) Die Anerkennungskommission tauscht sich regelmäßig EKD-weit mit Mitgliedern der Anerkennungskommissionen anderer Landeskirchen aus.
( 2 ) Die Anerkennungskommission dokumentiert die von ihr bearbeiteten Fälle. Insbesondere hält sie in anonymisierter Form die Anzahl der Fälle, die Höhe der Anerkennungsleistungen, den jeweiligen Kontext (Landeskirche; Alter und Geschlecht der Betroffenen; Profession der für die Tat verantwortlichen Personen und deren Geschlecht sowie die Art der Gewalterfahrung) fest, in dem die betroffene Person Unrecht erfahren hat und leitet diese Informationen jährlich auf Anfrage an die Evangelische Kirche in Deutschland weiter, die eine Gesamtdokumentation führt und veröffentlicht.
( 3 ) Die/der Vorsitzende berichtet der Kirchenleitung einmal jährlich sowie auf Anfrage über die Tätigkeit der Anerkennungskommission.
( 4 ) Die Ordnung der Anerkennungskommission ist in geeigneter Art und Weise (z. B. auf der Internetseite der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) zu veröffentlichen. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz informiert zusätzlich öffentlich über die Ansprech- und Antragsmöglichkeiten, Verfahrenswege und die aktuelle Besetzung der Anerkennungskommission.
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§ 13
Vereinbarungen zur Behandlung von Fällen aus anderen Kontexten

( 1 ) Diakonische Werke, Verbände der evangelischen Jugendarbeit und weitere Einrichtungen oder Organisationen können sich dieser Ordnung auf Basis einer schriftlichen Vereinbarung mit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz anschließen.
( 2 ) In der schriftlichen Vereinbarung sollten die Akzeptanz der Entscheidungen der Anerkennungskommission durch die sich anschließende Organisation sowie Regelungen zu einer möglichen Übernahme der Leistungen und Kosten festgelegt sein.
( 3 ) Vereinbarungen zur Behandlung von Fällen aus anderen Kontexten werden durch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die sich anschließende Organisation in geeigneter Art und Weise (z. B. auf der Internetseite der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) öffentlich gemacht.
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§ 14
Inkrafttreten

( 1 ) Diese Ordnung tritt am Tag nach der Verkündung im Kirchlichen Amtsblatt in Kraft.
( 2 ) Gleichzeitig tritt die Ordnung der Kommission zur individuellen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 15. Februar 2019 (KABl. S. 94) außer Kraft.